Welcome to Balz Hilt/Lorrain Villebois!

«Sehnsucht»


Lorrain Villebois wurde 1921 als Sohn lothringischer Einwanderer der dritten Generation in Birsfelden geboren. Seine Kindheit, die er selbst rückblickend als glücklich bezeichnete, war geprägt durch den frühen Tod des Vaters, die arbeitsame, strenge und doch auch gute Mutter, eine schwere Krankheit, die grosse Armut der Kriegs- und Nachkriegsjahre und die mythisch-symbolische Welt der katholischen Kirche. Zur Kunst fand Villebois bereits als Kind einen Zugang, denn er und sein Bruder durften sonntags nach dem Kirchgang häufig die Basler Museen besuchen. Nach der Schulpflicht erlernte er mangels besserer Möglichkeiten widerwillig den Beruf des Coiffeurs, entdeckte dann die Welt der Literatur und gründete mit seinem Freund Theo Tanner zusammen eine noch heute bestehende Buchhandlung (Bider & Tanner, Basel). In diesen «Lehr- und Wanderjahren» baute er u.a. eine Grafik-Abteilung auf und lernte Künstler wie Tinguely und Carigiet kennen.

«Aus meinem Fenster», 1962
«Aus meinem Fenster Sommer 1946 Ferien», 1946, Bleistift/Karton,
29.8 cm x 21.0 cm, rückseitig die (später geschriebene) Notiz
«An der Mattenstrasse 33 Basel / Hinterhaus / (wir wohnten dort ab 1933).
Sicht auf die Wohnung vom förderer / jetzt Prof. f. Architektur» 

1950 beschloss Villebois, seinen eigenen Weg zu gehen, und eröffnete eine Galerie. Mehrere Aufenthalte in Paris und Wien Mitte der Fünfziger Jahre führten ihn mit bedeutenden Malern zusammen, und er fühlte immer mehr, dass dies sein wahres Zuhause war. Vielleicht hätte ein anderer seine Liebe zur bildenden Kunst mit der Tätigkeit als Kunsthändler befriedigen können, ihm genügte das nicht: Als Galerist lebte er täglich mit der Kunst, doch er wollte seine «eigenen Bilder besitzen», sich selbst äussern.

«Tor», 1962
«Tor», 1962, Farbstift/Papier, 20.9 cm x 14.7 cm

So begann Lorrain Villebois 1962, mit über vierzig Jahren zu malen. Zuallererst entstanden Reihen mit dem Titel «Astrals», «Planeten» und «Arenas», poetische Stilleben des Weltalls, geprägt durch kühle geometrische Formen. Unverkennbar sind in dieser Zeit die Einflüsse von Paul Klee, Max Ernst und Pablo Picasso, nicht nur im Stil, sondern auch in der Wahl der Technik. Aus dieser Zeit stammen die meisten seiner Collagen, Frottagen und alle sog. «Schnürbilder».

«Arena und Schnürbild»
«Arena», 1963, Frottage/Mischtechnik, 24.3 cm x 14.9 cm (Blatt);
«Schnürbild», undatiert/unleserlich, Collage, 6.5 x 9.1 cm

Fast scheint, als habe der Künstler zunächst Weltenbühnen erschaffen, um ihnen dann Leben einzuhauchen, denn bereits nach kurzer Zeit entwickelte er den eigenen Stil, fand Lorrain Villebois seine innere Bilderwelt, die fortan das Werk bestimmen sollte. Mit beinahe unheimlicher Sicherheit schuf er Flora und Fauna: Eigenartige Gewächse, Blumen von betörender Schönheit, vor allem aber tierhafte Gestalten einer «ausgestorbenen Art» (wie er einige seiner Werke nannte), Mollusken mit Elefantenrüssel, Amöben mit asymmetrischen, ungeradzahligen Beinen, menschenähnliche und doch fremde, manchmal engelhafte, seltener beängstigende Traumfiguren. Es sind durchweg Organismen, die «anatomisch nicht zu erklären» sind (so lautet der treffende Titel eines Acrylbildes von 1965), denn sie sind geistiger, psychologischer Natur. Sie sind schöpferisch erfasste Begegnungen mit erahnten, aber urplötzlich zum Leben erwachten Wesen seiner Innenwelt — der Künstler selbst benutzte bei Gesprächen über seine Malerei häufig den Begriff «Spurensicherung» —, es sind bildgewordene Vorstellungen, Wünsche, Sehnsüchte, Phantasien und Ängste, es sind Antworten einer drängend fragenden Seele. Die Titel der Ausstellungskataloge von 1975 und 1995 lauten «Vieldeutigkeiten» und «metasymbole». In seinen Bildern tauchen Archetypen tiefsten Ursprungs auf, die — eindeutig — nur er selbst wirklich benennen und erklären könnte. Dennoch bleiben uns die Zeichen nie fremd, es sind Ur-Symbole des menschlichen Daseins, der eigenen Psyche.

«Lagune», 1964
«Lagune», 1964, 14.6 cm x 18.9 cm

Natürlich war sich Lorrain Villebois bewusst, dass er durch die Bilder sein Innerstes der Öffentlichkeit preisgab. Die Lust, das Bedürfnis, der Drang sich selbst malend zu verstehen waren aber zu stark, als dass er die Offenbarung fürchtete. Vielleicht ist dies ein Kennzeichen des wahren Künstlers: Wenn sein Verlangen (vielleicht sein Trieb?) sich auszudrücken allen Ängsten und Befürchtungen, allen anerzogenen Regeln und jeglicher «Vernunft» zum Trotz den Weg nach aussen findet.

Trio (ohne Titel)
o. Titel, Acryl; 1966, 9.4 cm x 12.8 cm; 1968, 9.8 cm x 12.8 cm; 1966, 9.5 cm x 12.8 cm

Ist Villebois ein art brut-Künstler oder ein naiver Maler? Nein, denn er wusste um sein Innerstes zu gut: Er selbst bezeichnete sich mehrmals als «Sexsymbolisten» und gab damit den Hauptschlüssel zu seinem Werk. Seine Auseinandersetzung mit Freud und Jung, die Erfahrung der Psychoanalyse und vor allem das erst späte, dann aber unumwunden klare Erkennen der eigenen Sinnlichkeit und Sexualität sind der rote Faden durch sein Werk. Die Bilder zeugen nicht zuletzt von der grossen Sehnsucht dieses Menschen, vom nie ganz abgelegten Wunsch, freudig sich selbst sein zu dürfen, geliebt zu werden und lieben zu können, so wie er war — wen erstaunt das, in einer Gesellschaft, die das Anderssein zeitgemäss duldet, doch kaum wirklich anerkennt oder gar gutheisst?

ohne Titel, 1967-70
ohne Titel, 1967-70, 14.6 cm x 18.9 cm (big)

Villebois' Werke sind nie «intellektuell verbrämt», sondern fast immer kindlich heller Ausdruck seines Maltriebes. Ihm gefielen das Spiel der Farben und Formen, der Zauber des Pinselstrichs, die Spur des Spachtels und das Erschaffen einer eigenen Welt mit ganz einfachen Mitteln. Mit demselben Feuer wurde er zum schöpferischen Baumeister, der in Basel und Angenstein fast aus dem Nichts, dafür mit wirklich freier Phantasie (und bewundernswerter Hartnäckigkeit über viel Jahrzehnte hinweg) zwei Gebäude zu neuem, ungemein strahlendem Leben erweckte.

«Menhir», 1982
«Menhir», 1982, 22.8 cm x 15.3 cm

Ein zweites Thema in seinem Werk ist die Liebe zum südländischen Menschenschlag und die Bewunderung der mediterranen Kultur, vor allem zu Spanien. Die sog. «Eierkarton-Bilder» (übermalte, dreidimensionale Collagen, entstanden in den 80er- und 90er-Jahren) sind häufig Erinnerungen an Reisen und Bekanntschaften. Sie zeigen Stierkämpfer — manchmal Stier und Matador in einem —, Arenen und stolze Paare. In diesen Bildern tritt die selbstbewusste Männlichkeit des Künstlers in den Vordergrund, das letztlich unbedingte «Ja» zu sich selbst.

«Souvenir à Capo di Ponte», 1985/86
«Souvenir à Capo di Ponte», 1985/86, 103 cm x 74 cm

Das dritte wichtige Motiv ist die Frau, besser: die Frauen. Sein ganzes Leben haben sie ihn begleitet, gefordert, gestützt, geliebt und zum Verweilen, Nachdenken und Staunen gebracht. Auf seine ihm eigene Weise erkannte er das Wesen der Frau und schuf mit seinen Bildern ein bewunderndes, ungewöhnliches Denkmal.

ohne Titel, 1982
ohne Titel, 1982, 22.7 cm x 15.2 cm

In den Notizen des Künstlers fand ich ein kleines, unscheinbares Blatt. Darauf stehen in einzelnen, grossen Buchstaben die Worte «EIGEN SINN» — remember Hermann Hesse? Diesen zutiefst eigenen Sinn suchte er sein Leben lang sehnsüchtig zu erkennen, zu erfassen, auszudrücken. Das malerische Werk von Lorrain Villebois — einschliesslich der ausgearbeiteten Entwürfe sind es gegen 3’000 Bilder — ist ein Beweis unter mehreren, dass ihm dies gelungen ist, obwohl er kurz vor seinem Tod im Oktober letzten Jahres immer noch grosse Zweifel hegte, ob er überhaupt «etwas gemacht» hatte …

Annemarie Monteil schrieb im Nachruf über Lorrain Villebois: «Immer wieder kam er wie von weit her, von einem anderen Stern oder einem freundlichen Gedanken.», und sie hat damit Balz Hilt — wie ihn unzählige Menschen unter bürgerlichem Namen kannten — sehr gut gezeichnet. Mir scheint, von seinen vielen Reisen hat er diese Bilder mitgebracht und sie uns geschenkt, damit wir ein bisschen von dem erahnen oder gar erfahren, was uns andere Sterne bieten können.

Enrico Ghidelli

(Text zur gleichnamigen Ausstellung vom 5. Juni bis 8. August 1998 in der Galerie HILT, Basel; 2013 überprüft und gesichert)

ohne Titel, 1995
ohne Titel, 1985, 17.8 cm x 18.6 cm

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